Auf Grundlage der ausführlichen Analyse der Hoyerswerdaer GIHK-Werkstatt hat der Kulturfabrik e.V. das Projekt „Stadtteilanker“ entwickelt. In der Analyse ist der erhebliche Rückgang in den Wohngebieten an großen Einrichtungen, Trägern und Vereinen, welche kulturelle oder soziale Angebote regional und überregional vorhalten können, deutlich geworden. Dennoch gibt es…
Projekte Archiv: 2010 – Eine Stadt tanzt!
Hoyerswerda – eine Stadt tanzt
Ein Tanzprojekt der Kulturfabrik Hoyerswerda
Ausgangspunkt: Hoyerswerda schrumpft! Ein schwieriger Prozess, aber auch ein packender Stoff für eine ungewöhnliche Inszenierung, welche die Kulturfabrik mit dem Tänzer und Filmemacher Dirk Lienig und mit Laientänzern aus Hoyerswerda als multimediales Tanztheater seit Januar einstudierte.
Auf einen Zeitungsartikel hin meldeten sich über 70 Interessenten. Seitdem wurde dreimal die Woche, dank freundlicher Unterstützung durch das Lessing-Gymnasium, in einer Turnhalle trainiert. 40 Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Großeltern blieben die ganze Zeit dabei und ließen sich auf dieses Tanz-Theaterabenteuer ein. Die wenigsten hatten Bühnen, geschweige denn Tanzerfahrungen. Die Projektteilnehmer lernten sich kennen, fanden ihren eigenen Bewegungsrhythmus und wuchsen als Gruppe zusammen. Man lernte sich und dem anderen zu vertrauen, über seine eigenen Grenzen zu gehen und sich zu öffnen. Letzteres geschah nicht nur beim Tanzen, sondern auch bei den Videointerviews, die als Projektion Bestandteil der Liveaufführung waren.
Am letzten Mai-Wochenende 2010 fanden drei ausverkaufte Vorstellungen in der Maschinenhalle der Energiefabrik Knappenrode ihre begeisterten Besucher (s. Presse).
Erschienen ist auch ein Mitschnitt des Projektes als DVD (in der Kufa erhältlich).
„Einer Stadt tanzt“
Veranstalter: Kulturfabrik Hoyerswerda e.V.
Mit freundlicher Unterstützung durch Energiefabrik Knappenrode, Lessing-Gymnasium Hoyerswerda, Stadt Hoyerswerda und Kulturraum Oberlausitz/Niederschlesien.
Projektleitung: Dirk Lienig
Choreografie: Dirk Lienig, Judith Gamm
Film und Schnitt: Dirk Lienig
Ton und Licht: Firma Brettschneider (DD)
Video und Visualisierung: Golden Cat Entertainment
Maske und Frisuren: Firma HaarSchneider
Kostüme: Katrin Münzberg
Musik: Wim Mertens, Kronos Quartett, Tom Waits, Gerhard Gundermann
After Show Party: DJ Reydan (facebook.com/djreydan)
Filmdokumentation: Andreas Wolf, Dirk Lienig
Link zum MDR-Bericht des Kulturmagazin „Artour“
www.mdr.de/artour/7359076.html
31.05.2010 Lausitzer Rundschau Hoyerswerda
Tanzen gegen den Frust
Von Sascha KleinDie Narben der früheren sozialistischen Wohnstadt sind überall erkennbar. Auch nach zehn Jahren Rückbau fallen weiterhin Häuser, Menschen ziehen der Arbeit hinterher, die es in Hoyerswerda (Kreis Bautzen) nicht mehr gibt. Hoyerswerda ist für viele noch immer ein Synonym für Wegzug und Perspektivlosigkeit. Doch hinter der teils grauen Fassade ist es frisch, jung und bunt. Die Kulturfabrik Hoyerswerda tritt nun den Beweis dafür an, dass die Stadt am Leben ist. Am Freitagabend hat sie sich zum ersten Mal den Frust und die Vorurteile vom Leib getanzt.
Zunächst ist alles grau im einstigen Motorenlager der Brikettfabrik Knappenrode, die jetzt Energiefabrik heißt. Morbider Charme, Tänzer in grauen Oberteilen – gelebte Tristesse. Das ist das Bild, das Hoyerswerda nachhängt. Die 40 Laientänzer, mit denen der Tänzer und Regisseur Dirk Lienig seit Januar auf diesen Abend hingearbeitet hat, zeigen den Schmerz des Abschieds. Die frühere Wohnstadt des Kombinats Schwarze Pumpe hat seit der Wende mehr als die Hälfte seiner Einwohner verloren. Geblieben sind rund 35 000 – bis jetzt. Eine Videosequenz beginnt, ein Mix aus Erinnerung, Trauer und Wehmut. Das ist das Besondere an »Eine Stadt tanzt»: Das Projekt ist ein multimediales Tanztheater. »Wir haben fast 35 Jahre dort gewohnt», sagt eine Frau auf der Leinwand. »Für uns war es eine schöne Zeit.» Eine andere ist deprimiert: »Ich finde es traurig, dass sie alle weggehen.» Gemeint ist die Jugend. Sie wandert ab, übrig bleiben meist nur die Alten. Doch Hoyerswerda ist für viele mehr geworden als bloßer Wohnort. Ich glaube, ich brauche diese Stadt. Und die Stadt braucht mich», sagt eine andere Frau. Wen dieser Ort einmal gefangen hat, den lässt er nicht mehr weg. Hoyerswerda berührt Herzen. Dass das so ist, beweist das ausverkaufte Haus. Die Kulturfabrik musste für den Samstag eine Zusatzvorstellung organisieren.
Die Tänzer kommen zurück auf die Bühne, noch immer in grau. Sie schreiten hintereinander her, fast wie ein Zug Gefangener. Die Einwohnerentwicklung von 1990 bis heute wird verlesen. Aus jeder dieser Zahlen rinnt Verlust. Jede Zahl bedeutet eine Niederlage. Szenenwechsel, nächster Kurzfilm: Ein älteres Paar steht auf einer Rasenfläche vor einem grauen Plattenbau und tanzt. Bilder fließen über die Leinwand. Bilder einer Stadt ohne Wunden, Bilder aus den Jahren vor dem großen Abriss. Sie bleiben Erinnerung. Die Perspektive verkehrt sich. Die alte Zeit ist Geschichte, ein Teil der Vergangenheit. Hoyerswerda stellt sich der Herausforderung, ist trotzig, lebt mit dem Umbau, mit den Wunden, mit der Tatsache, dass irgendwann ganze Wohnkomplexe verschwunden sein werden. Hoyerswerda wird bunt, an vielen Ecken ist das bereits Realität. Die Tänzer strahlen nun in ihren bunten Shirts, sie feiern, sie juchzen – Alt und Jung gemeinsam. Sie nehmen nach den Jahren der Depression den Gedanken der Veränderung auf, leben ihn, gestalten die Stadt gemeinsam um.
Hoyerswerda wird irgendwann nur noch knapp 30 000 Einwohner haben. Doch spätestens dann hat dieser Ort den grauen Schleier endgültig abgelegt und kann die Vorurteile über Bord werfen – als moderne Stadt im künftigen Lausitzer Seenland.
Montag, 31. Mai 2010 (Sächsische Zeitung)
Der Premieren-Applaus donnerte fünf Minuten
Von Mirko KolodziejDas Stück zeigt, wie viel Lebensmut in der Stadt steckt. Den müssen wir erhalten.
Wer zur Energiefabrik nach Knappenrode fährt, erlebt Hoyerswerda wie unter dem Brennglas. Er passiert leere Wohnhäuser, ein leeres Kulturhaus, leere Geschäfte und landet in einer Brikettfabrik, die keine Briketts mehr fabriziert. Der Ortsteil hat 740 Einwohner. Vor 50 Jahren waren es einmal 1.800. Gibt es noch Hoffnung? Das ist das Thema von „Eine Stadt tanzt“ und also betraten die vierzig Laien-Tänzer die frühere Maschinenhalle des heutigen Bergbaumuseums in grau-blau-grün-trostloser Einheitskleidung. In einer Szene sitzen sie in sich versunken am Boden, in einer anderen erklären sie per Video über ihren eigenen Köpfen ihr Verhältnis zu ihrer seit Jahren schrumpfenden Stadt. „Das geht schon an die Seele“, sagt da zum Beispiel Ute (57).
Doch je weiter sich das Stück entwickelt, desto mehr spürt man, was Erhard (66) meint: „Das Leben geht doch weiter.“ Die Tänzer bauen sich gegenseitig mit Gesten auf, wenden sich einander zu und als sie am Schluss in knallbunter Kleidung auf den 70 Quadratmetern in der Maschinenhalle stehen, tragen sie zwei von sich über ihren Köpfen. Gemeinsam schafft man so etwas. Zum Abgang ertönt dann Gerhard Gundermanns Optimisten-Hymne: „Immer wieder wächst das Gras.“ Botschaft verstanden: Natürlich gibt es Hoffnung! Man kann sogar eine leere Maschinenhalle mit Leben füllen. Wie hatte die 18-jährige Theresa da oben auf der Leinwand erklärt: „Wer sich auf Hoyerswerda einlässt, ist begeistert.“
Das war am Freitag zur Premiere auch das Publikum. Es gab fünf Minuten donnernden Applaus. Bei den zwei anderen Darbietungen am Sonnabend war es nicht weniger. „Das sind keine Tanz-Laien mehr“, meinte eine junge Zuschauerin aus der Altstadt über die 8- bis 73-jährigen Protagonisten. Die Atmosphäre erinnere sie ein wenig an Berlin und Volkshochschul-Chef Detlef Heuke gab zu Protokoll: „Man sieht mich ja selten sprachlos. Heute bin ich es.“
Die Tänzer strahlten nach der Premiere um die Wette. „Sie haben den Beifall bekommen, den sie verdienen. Schon ihr Mut verdient allergrößten Respekt“, meinte der Profi-Tänzer, Autor und Filmemacher Dirk Lienig, der über vier Monate die Proben leitete. Und nun? „Es wird wohl ein Folgeprojekt geben müssen“, sagt Uwe Proksch von der für all die Begeisterung verantwortlichen KulturFabrik.